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  • Veröffentlichungsdatum 17.04.2024

Mehr als 1.550 Obdachlose in Notunterkünfte gefahren: Einige schaffen es, von der Straße weg zu kommen

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Gestern Morgen wurde die Notübernachtung in der Lehrter Straße der Berliner Stadtmission geschlossen. In der größten niedrigschwelligen Notübernachtung Berlins, die zentral in der Nähe des Hauptbahnhofs liegt, können Menschen, die auf der Straße leben, im Winter kostenfrei im Warmen sicher übernachten. Dort ist die Kältehilfe-Saison 2023/2024 nun beendet – eine Bilanz.

Kältebusse versorgen mehr Menschen auf der Straße

1.580 Menschen ohne Obdach wurden von den drei Kältebussen der Berliner Stadtmission zwischen dem 1. November 2023 und dem 31. März 2024 in Notübernachtungen gebracht. Das waren 237 Menschen mehr als im Vorjahr. Zwei Festangestellte und 60 Menschen, die ehrenamtlich tätig sind, unterstützen das Projekt. Sie fahren entweder die Kältebusse, sind Beifahrer oder arbeiten für das Callcenter, das die Busse koordiniert. Täglich sind die Kältebusse in den vergangenen Abend- und Nachtstunden durch die Straßen Berlins gefahren, um Menschen vor dem Erfrieren zu retten und bei Anruf sofort zu reagieren. Im Callcenter klingelte 2.265 Mal (Vorjahr: 2058 Mal) das Telefon.

Insgesamt hatte das Kältebusteam während der vergangenen Kältehilfesaison 2023/2024 Kontakt zu 3.586 Menschen (Vorjahr 3.326), die auf der Straße leben. Dabei wurde 2.920 Männern (254 davon im Rollstuhl) und 666 Frauen (davon 49 im Rollstuhl) ein heißer Tee und ein Schlafsack angeboten. 283 Menschen erhielten Kleidung vom Kältebusteam, 617 Schlafsäcke wurden ausgegeben und 1.091 Mal Menschen mit Nahrung versorgt. Denn nicht immer gelingt es dem Team, die Bedürftigen davon zu überzeugen, dass Notunterkünfte die bessere Übernachtungsmöglichkeit sind. Manche Menschen wollen lieber auf der Straße bleiben, weil sie beispielsweise Angst vor anderen haben oder psychisch erkrankt sind. „1.297 Männer und 283 Frauen wurden auf eigenen Wunsch in Notunterkünfte gebracht“, sagt die Leiterin des Fachbereichs Wohnungslosenhilfe, Karen Holzinger. „Leider war es ab 23 Uhr dem Kältebusteam an vielen sehr kalten Abenden nicht mehr möglich, Menschen unterzubringen, weil bereits alle Unterkünfte geschlossen oder voll belegt waren“, ergänzt sie.

Insgesamt sind die Kältebusse der Berliner Stadtmission in der vergangenen Kältehilfesaison 31.260 Kilometer gefahren.

Krankenhäuser entlassen Obdachlose in schlechtem Gesundheitszustand

In diesem Winter wurden immer häufiger obdachlose Menschen in schlechtem gesundheitlichem Zustand von Rettungswagen in Notunterkünfte gebracht oder aus Krankenhäusern entlassen. „So saß ein Mann gegen 1 Uhr nachts schon seit mehreren Stunden an einer Tram-Haltestelle vor einem Berliner Krankenhaus. Der ältere Herr hatte diverse Verletzungen, war eingenässt und dünn bekleidet. Als meine Kollegen ihm in den Kältebus helfen wollten, fiel auf, dass er einen Katheter im rechten Bein, eine stark entzündete und blutige Hand und eine genähte Wunde am Kopf hatte“, erzählt Karen Holzinger, Leiterin des Fachbereich Wohnungslosenhilfe bei der Berliner Stadtmission.

Der Kältebus hat den Mann daraufhin in ein weiter entferntes Krankenhaus gebracht, wo extreme Unterkühlung festgestellt wurde. Der Patient wurde sofort in den Schockraum geschoben. Karen Holzinger ergänzt: „Dass Krankenhäuser obdachlose Menschen in diesem Zustand entlassen, ist sehr traurig und leider keine Seltenheit. Deshalb führen Mitarbeitende der Berliner Stadtmission inzwischen Gespräche mit Vertretenden der Krankenhäuser und des Senats. Diese sollen verstetigt werden, um die Zusammenarbeit an dieser Stelle zu verbessern.“ Auch die Polizei sähe die Kältehilfe häufig als direkte Anlaufstelle für Menschen, denen die Polizei nicht weiterhelfen kann. „So wurden uns nachts Familien gebracht, die häusliche Gewalterfahrungen gemacht hatten. Aber Kinder dürfen wir in den Notübernachtungen gar nicht aufnehmen“, erklärt Karen Holzinger.

50.306 Übernachtungen in den drei Notübernachtungen

In der Kältehilfesaison von November 2023 bis April 2024 hat die Berliner Stadtmission drei Notübernachtungen betrieben. Diese boten jede Nacht insgesamt 298 sichere Schlafplätze im Warmen. In der Notübernachtung Lehrter Straße (125 Plätze), der Notübernachtung Kopenhagener Straße (53 Plätze) und der Notübernachtung am Containerbahnhof (120 Plätze) fanden vom 1. November 2023 bis gestern insgesamt 50.306 Übernachtungen durch 3.665 unterschiedliche obdachlose Gäste statt. Unter diesen Gästen waren 73 verschiedene rollstuhlfahrende oder anders mobilitätseingeschränkte Gäste.

Die Notübernachtungen der Berliner Stadtmission waren von Mitte November bis zur vorvergangenen Nacht immer sehr gut belegt und in kalten Nächten sogar stark überbelegt. Der Bedarf an niederschwelligen Notübernachtungen ist also weiterhin sehr hoch. Besonders die Notübernachtung in der Lehrter Straße war wegen ihrer zentralen Lage und der niederschwelligen Aufnahme bis 4 Uhr morgens sehr gefragt und hat oft über ihre Kapazitätsgrenzen hinaus Menschen aufgenommen.

a) Wie viele Menschen haben diese Saison in den Stadtmissions-Notübernachtungen geschlafen?

3.665 verschiedene Gäste (Vergleich: 3.700 waren es von 2022 zu 2023; 2.699 waren es von 2021 zu 2022)

b)        Aus welchen Nationen stammen die Gäste?

  • aus Deutschland 28% (Vorjahr 27%)
  • aus Polen 27% (Vorjahr 28 %)
  • aus Rumänien 7% (Vorjahr 8 %) 
  • aus Bulgarien 5% (Vorjahr 6%) 
  • aus der Ukraine 4% (Vorjahr 4%)
  • aus Lettland 3% (Vorjahr 3%)
  • aus Litauen 2% (Vorjahr 2%)  

Die Zusammensetzung der Gäste hat sich gegenüber den Vorjahren nur wenig verändert: Weiterhin ist ein Großteil der obdachlosen Gäste in den Notübernachtungen zwischen 30 und 50 Jahren alt. Wie in den letzten Jahren machen osteuropäische Staatsbürger:innen den Großteil der Gäste aus: Polen (27%), Rumänien (7%), Bulgarien (5%), Ukraine (4%), Lettland (3%), Litauen (2%).

Gestiegen ist die Zahl der Frauen, die in der Notübernachtung Lehrter Straße geschlafen haben: von vormals 12 Prozent auf in diesem Jahr 17 Prozent.

Viele medizinische Notfälle

Der Gesundheitszustand vieler Gäste war sehr schlecht. Dadurch häuften sich die medizinischen und psychischen Notfälle in den Notübernachtungen: aktive Suizidversuche, Herzversagen, Entzug, gefährliche Schnittverletzungen, brutale Gewalt, Tuberkulose: das alles war leider keine Seltenheit. Die Mitarbeitenden der Notübernachtungen sind für diese Fälle nicht professionell ausgebildet und können diesen lebensbedrohlichen Notfällen nur improvisiert begegnen. Rettungskräfte schaffen es nicht immer rechtzeitig zur Einrichtung. Und so sind auch in diesem Jahr obdachlose Menschen in den Notübernachtungen zusammengebrochen und in der Folge im Krankenhaus verstorben.

Weiterhin hoch war unter den Gästen der Anteil rollstuhlfahrender, pflegebedürftiger, mobilitätseingeschränkter, inkontinenter und dementer Gäste. Viele brachten zudem starke psychische Erkrankungen mit, hatten beispielsweise Verfolgungswahn, litten unter Realitäts-verlust, hörten Stimmen und mussten daher intensiver betreut werden.

Leider sind die Notübernachtungen für die Bedürfnisse dieser Menschen nicht ausgestattet und können die Gäste nur notdürftig betreuen. Es bedarf dringend professioneller, spezialisierter Einrichtungen für mobilitätseingeschränkte, pflegebedürftige und psychisch erkrankte obdachlose Menschen.

Notübernachtung Lehrter Straße oft überbelegt

Herausfordernd war zudem die Vielzahl von Gästen, die in der Notübernachtung Lehrter Straße schliefen: Da sie als eine der wenigen Einrichtungen in Berlin bis 4 Uhr nachts Gäste aufnimmt und sehr zentral liegt, ist sie fast immer überbelegt. 125 Plätze sind in der Notübernachtung eingeplant. Durchschnittlich schliefen allerdings in dieser Kältehilfesaison jede Nacht 140 Menschen dort. Trotzdem mussten fast täglich Gäste abgewiesen werden. An einigen Tagen wurden bis zu 30 Personen mehr aufgenommen als vorgesehen und gleichzeitig 20 Personen abgewiesen. Berlin braucht mehr niedrigwellige und gut zu erreichende Einrichtungen, die eine Aufnahme bis in die frühen Morgenstunden gewährleisten können.

Insgesamt gab es in der Notübernachtung Lehrter Straße 22.039 Übernachtungen durch 2.269 unterschiedliche Personen. Durchschnittlich schliefen pro Nacht 137 Menschen dort. 44 unterschiedliche Menschen benötigten besondere Betreuung, beispielsweise, weil sie sich mittels eines Rollstuhls fortbewegen.

Einigen gelingt der Absprung von der Straße

Zusätzlich zu einem warmen und sicheren Schlafplatz bietet die Berliner Stadtmission in ihren Notübernachtungen sozialpädagogische Beratung an. Diese ist besonders wichtig, um Menschen – auch im Rahmen der sonst sehr auf Versorgung angelegten Kältehilfe – eine Perspektive abseits der Straße aufzuzeigen. In individueller und nachhaltiger Beratung konnten qualifizierte Mitarbeitende so beispielsweise zwei obdachlosen Männer, die ehemals Suchtmittelabhängig waren, zum Entzug ermutigen und ihnen anschließend Jobs als Reinigungskräfte vermitteln. Einer der beiden ist rückfällig geworden – und wurde weiterhin durch die Berliner Stadtmission betreut. Er ist inzwischen leider unheilbar krank und gestern mit Hilfe der Stadtmission und der polnischen Botschaft auf dem Weg zurück in sein Heimatland Polen gereist. Dort wird er nun auf seinem letzten Lebensabschnitt von einer heimischen Hilfsorganisation betreut. Der andere Mann ist immer noch als Reinigungskraft tätig und wohnt inzwischen in einer Wohnung der Berliner Stadtmission.  

Die Sozialarbeiter:innen haben in den letzten Monaten viele solcher Beratungen durchgeführt und konkrete Hilfestellungen aufgezeigt, um obdachlosen Menschen einen Lebensweg abseits der Straße aufzuzeigen.

Keine Kältehilfe ohne Ehrenamt

Auch wenn sich die Kältehilfeeinrichtungen der Berliner Stadtmission in den letzten Jahren professionalisiert haben, wird ein Großteil der Arbeit noch immer von ehrenamtlich Tätigen gemacht. Allein in der Notübernachtung Lehrter Straße arbeiteten neben den 26 Hauptamtlichen in dieser Saison noch 80 geschulte Ehrenamtliche regelmäßig mit. Hinzu kamen rund 250 unregelmäßig tätige Ehrenamtliche. Ohne die ehrenamtlich Tätigen wäre die tägliche Arbeit nicht zu bewerkstelligen gewesen. Die Berliner Stadtmission dankt den vielen Engagierten. Gleichzeitig wäre es wünschenswert, wenn das Ehrenamt nicht mehr die Basis dieser Arbeit, sondern eine gewinnbringende Ergänzung wäre.

Das betrifft auch ganzjährige Projekte wie die Kleiderkammer, die ebenfalls nur Dank der Hilfe engagierter Ehrenamtlicher betrieben werden kann. Wochentags kommen bis zu 180 Bedürftige täglich in die Lehrter Straße, um sich dort einzukleiden – das sind viel mehr Menschen als noch im Jahr davor.

Es kamen zudem deutlich mehr Gäste, die psychisch erkrankt sind und/oder sich aggressiv verhalten. Mindestens zwei Mal pro Monat musste deshalb die Polizei gerufen werden. Die Spenden für die Kleiderkammer reichen nicht aus, weil die Zahl der Gäste verglichen mit dem Vorjahr von durchschnittlich 120 auf 180 pro Tag gestiegen ist. Wie auch in den Notübernachtungen, sind viele Gäste der Kleiderkammer obdachlose Menschen nicht-deutscher Herkunft. Auch viele ukrainische Flüchtlinge kleiden sich dort ein. Zusätzlich hat die Zahl der mobilitätseingeschränkten Menschen im Rollstuhl zugenommen. Die Gäste der Kleiderkammer stammen zu etwa 50 Prozent aus Polen, 20 Prozent kommen aus den ehemaligen Sowjetstaaten und 20 Prozent sind Deutschen. Viele Frauen, die in die Kleiderkammer kommen, sind aus der Ukraine geflüchtet.

Auch das Team der Ambulanz für Menschen ohne Krankenversicherung hat in vergangenen Kältehilfesaison in den Notübernachtungen obdachlose Menschen medizinisch versorgt: So wurden beispielsweise im November 2023 insgesamt 165 Behandlungen in der Notüberachtung Lehrter Straße durchgeführt. Im Dezember stieg diese Zahl bereits auf 186. Die häufigsten Behandlungen waren Verbandswechsel, Parasitenbehandlungen bei Läusen und Krätze sowie Schmerzbehandlungen.

Zudem ist die Ambulanz für Menschen ohne Krankenversicherung ganzjährig geöffnet, um obdachlose Menschen kostenfrei medizinisch zu versorgen. Im ersten Quartal diesen Jahres wurden dort bereits 450 Patient:innen behandelt.

Die Berliner Stadtmission bedankt sich bei allen ehrenamtlich Tätigen und den Hauptamtlichen für die engagierte Arbeit und wünscht gute Erholung – hoffentlich bis zur kommenden Kältehilfesaison. Außerdem gilt der Dank der Berliner Stadtmission den Bezirken und dem Senat für die Finanzierung der Kältehilfe sowie den Spender:innen, Unternehmen und Vereinen, die durch ihre Unterstützung die Arbeit der Berliner Stadtmission möglich machen. Den obdachlosen Gästen wünscht die Berliner Stadtmission, dass sie gut über den Sommer kommen, weil auch er viele Beschwerlichkeiten und Gefahren mit sich bringt.

weitere Informationen:

Barbara Breuer, Pressesprecherin
Telefon: 030 690 33 413
Mobil: 0151 12917353
breuer[at]berliner-stadtmission.de