Menschen und Geschichten
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  • 11.09.2024

Aus dem Gefängnis in die Freiheit

„Alleine hätte ich das nicht geschafft“

Er mag klassische Musik, Kunst, Antiquitäten – und hat Stil: Im kleinkarierten Jackett mit Einstecktuch und schicken Lederschuhen spaziert Martin Kleiner über das Gelände an der Lehrter Straße. Dabei unterhält er sich mit Claudia Haubrich von „Drinnen und Draußen“, einem über das integrierte Sozialprogramm (iSP) der Senatsverwaltung für Soziales finanzierten Projekt der Straffälligenhilfe der Berliner Stadtmission. Der Verein setzt sich seit 1886 für Menschen ein, die im Gefängnis sind oder es waren. Damals fanden die Männer in einer Zigarrenfabrik der Stadtmission Arbeit, Kost und Logis. In großen Lettern prangten dort über der Tür des Asyls die biblischen Worte: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen“ (Johannes 6,37).

Auch heute noch unterstützt die Berliner Stadtmission straffällig gewordene Menschen. Martin Kleiner wurde die Beratungsstelle von einem Mitinsassen in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Hakenfelde empfohlen. Dort lebte der 64-Jährige bis April im offenen Vollzug: „Nachts habe ich im Gefängnis geschlafen und nach dem Frühstück meine Arbeit im Garten und rund um den Fischteich gemacht“, erzählt er. Wegen guter Führung hatte Martin Kleiner zuletzt 60 Stunden Ausgang pro Monat.

Gespräch Claudia Haubrich und Martin Kleiner

Unterwegs in der Stadt musste der 64-Jährige auch erledigen, was in seinem Vollzugsplan stand. Der wurde zu Haftbeginn von seiner zuständigen Gruppenleitung in der JVA ausgearbeitet. Neun Monate lang hat er so zusammen mit Claudia Haubrich von „Drinnen & Draußen“ immer wieder reflektiert, wo er gegen Gesetze verstoßen hat. „Und vor allem warum“, erklärt die 40-Jährige. Diese Straftat-Auseinandersetzung ist verpflichtend für die meisten Inhaftierten. Die Gespräche mit qualifizierten Mitarbeitenden der Stadtmission können für die Straftäter:innen sehr heilsam sein: „Claudia Haubrich hat mich gleich verstanden und war sehr einfühlsam. Das hat mir gutgetan“, sagt Martin Kleiner. Er vertraut ihr.

"Eines Tages stand dann die Polizei vor meiner Tür.“

Eine Familie hat er nicht: Aber einen Ziehsohn, mit dem er guten Kontakt hat. Martin Kleiner erklärt: „Dies und der Glaube daran, dass es immer weiter geht und sich alles im Leben lösen lässt, gibt mir Kraft und Zuversicht.“ Und das, obwohl sein Glaube an das Gute in den Menschen vor Jahren stark erschüttert wurde. Damals bot Martin Kleiner im Internet das Erdgeschoss seines Hauses an. „Ein junges Pärchen hat sich dort eingemietet“, sagt er. Doch statt Betten, Stühle und Tische hineinzustellen, nutzen die beiden die mehr als 200 Quadratmeter große Fläche als Plantage – und bauten dort widerrechtlich Cannabis an. Martin Kleiner sah, was vor sich ging, meldete es nicht den Behörden und bat die beiden stattdessen mehrfach, damit aufzuhören. Vergebens. „Eines Tages stand dann die Polizei vor meiner Tür“, erinnert er sich.

Es folgten elf Monate Untersuchungshaft, in denen er sich weigerte, gegen das Pärchen auszusagen. Denn anderen Menschen schaden, möchte er nicht. Das brachte ihm drei Jahren Haft ein wegen Beihilfe beim Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. „Ich hätte energischer sein und entschiedener dagegen vorgehen müssen. Aber ich bin schon immer recht naiv auf andere Menschen zugegangen und lasse mich zu schnell vereinnahmen“, weiß Martin Kleiner inzwischen. Anfänglich habe er echte Wut und viel Groll gegen die beiden gehegt: „Ich musste jeden Tag daran denken, was mir für ein Unrecht widerfahren ist.“ Mittlerweile hat er Abstand gewonnen. „Aber alleine hätte ich das nicht geschafft“, sagt er.

„Wir erklären den Menschen ihre Rechte, skizzieren Perspektiven und nehmen ihnen die Angst. “

Tür der Wohnhilfe von "Drinnen und Draußen"

Auch seine Finanzen wieder in Ordnung zu bringen, gelang mit Hilfe der Stadtmission: Felissa Mühlich von der „Schuldner- & Insolvenzberatung für den Berliner Justizvollzug“ hat mit Martin Kleiner seine wirtschaftliche Lage besprochen. „Wenn Menschen inhaftiert werden, haben sie häufig nicht die Möglichkeit vorher ihre Papiere in Ordnung zu bringen, überflüssige Verträge zu kündigen, die Krankenversicherung zu informieren oder andere finanzielle Verpflichtungen zu stoppen“, weiß die Schuldnerberaterin. Oft haben Menschen auch schon Schulden, wenn sie inhaftiert werden. Regelmäßig sind Felissa Mühlich und ihre Kolleg:innen deshalb in Gefängnissen unterwegs, um Inhaftierte zu beraten: „Wir erklären den Menschen ihre Rechte, skizzieren Perspektiven und nehmen ihnen die Angst“, sagt Felissa Mühlich. Der Berliner Senat für Justiz finanziert das Angebot.

Martin Kleiner hat bei ihr gelernt: „Ich kann entweder von dem sehr wenigen, was ich habe, zahlen. Aber auch einen Insolvenzvergleich anstreben oder mit Hilfe eines Pfändungsschutzkontos mit den Schulden leben“, erklärt er. Und sie ergänzt: „Wir beschreiben die Vor- und Nachteile und überlassen das Handeln dann den Ratsuchenden, damit sie selbst für sich gute Entscheidungen treffen und Erfolgserlebnisse haben können.“ Das ist Hilfe zur Selbsthilfe in Finanzfragen. Auch Martin Kleiner wollte erst in Ruhe über seine Optionen nachdenken, bevor er sich entschieden hat.

Gespräch Felissa Mühlich und Claudia Haubrich

Parallel dazu arbeitete er mit Claudia Haubrich an seiner Haftentlassungsvorbereitung: „Ich möchte so schnell wie möglich eine Arbeit finden“, sagt Martin Kleiner. Der gelernte Schauspieler hat früher Wohnungsauflösungen gemacht, dann abstrakte Bilder gemalt und verkauft oder alte Dinge auf Antikmärkten angeboten. „Ich kann auch gut organisieren und schreiben“, weiß er. Im Gefängnis hat er vielen Menschen geholfen: „Ich habe Anklageschriften erklärt, Briefe und Anträge geschrieben oder Schreiben vorgelesen, wenn sie es nicht konnten.“ Selbst Hilfe anzunehmen, musste er erst lernen.

Denn wer aus dem Gefängnis kommt, steht oft vor dem Nichts und hat viele Baustellen zu bearbeiten. So ließ sich Martin Kleiner auch von der ambulanten Wohnhilfe beraten. „Dort habe ich nach meiner Haftentlassung eine möblierte Wohnung von der Berliner Stadtmission im betreuten Einzelwohnen bekommen“, sagt der 64-Jährige. Sozialarbeiterin Claudia Mildner trifft sich weiterhin wöchentlich mit ihm und gibt Tipps zur Wohnungssuche: „Wir sprechen auch über soziale Schwierigkeiten nach der Haftentlassung, erledigen gemeinsam mühselige Behördenangelegenheiten und gehen auch gesundheitliche Probleme an.“ So half sie ihm dabei, wieder eine Krankenversicherung zu bekommen. „Einmal kam er zur Sprechstunde in die Lehrter Straße und hatte keine Medikamente mehr, die er aufgrund einer chronischen Erkrankung dringend braucht“, sagt sie. Ein Gang über den Hof zur Ambulanz für nicht krankenversicherte Menschen und Martin Kleiner hatte einen Vorrat bis zum nächsten Arztbesuch. Für dieses Hilfsnetzwerk und die guten Dinge, die ihm passieren, dankt Martin Kleiner täglich. Er sagt: „Christen würden das wahrscheinlich Gebet nennen.“