Menschen und Geschichten
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  • 07.05.2025

Ein Zuhause auf Zeit

Seit 25 Jahren hilft das Übergangshaus Menschen, neue Perspektiven zu finden

Januar 2018: Der Gerichtsvollzieher steht im Hausflur. Er will die Wohnung von Alex Desselberger räumen. Da kommt Sozialarbeiter Achim Wurster von der Berliner Stadtmission mit einem Auto vorbei. „Wir hatten anderthalb Stunden Zeit und ich konnte noch ein paar Unterlagen retten. Aber vieles ist weg“, bedauert Alex Desselberger. Mit dem vollgepackten Auto fahren der 66-Jährige und Achim Wurster gemeinsam ins Übergangshaus.

Das Projekt der Berliner Stadtmission in der Lehrter Straße 69 bietet seit 25 Jahren Menschen ein Zuhause auf Zeit, wenn sie viele Jahre obdachlos waren, nach ihrer Haftentlassung nicht wissen, wo sie wohnen sollen, persönliche Schicksalsschläge sie aus der Bahn geworfen haben, die Wohnung nach langen ungeplanten Krankenhausaufenthalten weg ist oder ihr Zuhause frisch geräumt wurde – wie bei Alex Desselberger. Achim Wurster leitet das Haus mit den drei Etagen seit 2020: „Alle Bewohner:innen stehen vor unterschiedlichen Herausforderungen. Das können unter anderem psychische Erkrankungen sein und gesundheitliche Einschränkungen.“

Gespräch

Oder eine Suchterkrankung wie bei Alex Desselberger: „Ich war spielsüchtig, überschuldet, habe mich nicht mehr gerührt. Glücklicherweise hat mich der Sozialpsychiatrische Dienst an die Stadtmission vermittelt“, erzählt er heute, sieben Jahre später. Damals hatte er geglaubt, er schaffe es alleine, seine Probleme zu bewältigen. Doch machten ihn Depressionen endgültig handlungsunfähig. „Ich war total blockiert, habe die Post nicht mehr aufgemacht und war nicht mehr in der Lage, mich selbst zu versorgen“, erinnert er sich. Am 8. Januar 2018 bezog Alex Desselberger sein Einzelzimmer im Übergangshaus. „Das war das Beste, was mir passieren konnte“, sagt er heute rückblickend. Denn die Mitarbeitenden haben sich viel Zeit genommen, um mit ihm neue Perspektiven zu entwickeln.

„Ein Erfolgsfaktor des Übergangshauses ist, dass wir wochentags von 8 bis 20 Uhr dort arbeiten, wo die Menschen leben“, erklärt Achim Wurster. Neben festen Terminen mit den Klient:innen bringen auch Flurgespräche und Gemeinschaftsangebote wie das freitägliche Gemeinschaftsfrühstück neue Impulse.

25 Jahre Jubiläum

Menschen so gut kennen zu lernen, dass sie den Mitarbeitenden vertrauen, ist die Grundlage der Arbeit. „Die meisten hatten schon viele frustrierende Erfahrungen mit Institutionen und trauen niemandem mehr“, weiß Achim Wurster. Erste Schritte in der Arbeit können sein, gemeinsam Bürgergeld, Ausweispapiere und die Wiederaufnahme in eine Krankenkasse zu beantragen. Oder sich um Schuldenvergleiche zu kümmern wie bei Alex Desselberger. „Egal in welcher Scheiße man steckt, die zuständigen Sozialarbeiter sind voll für einen da und erreichbar“, weiß er. Neben der intensiven ganzheitlichen Betreuung haben ihm Ruhe und die Sicherheit im Übergangshaus geholfen, neuen Mut und Kraft zu schöpfen.

„Wir gucken außerdem, was die uns anvertrauten Menschen ausmacht, das kann Humor sein oder eine künstlerische Begabung“, sagt Achim Wurster. Zuverlässigkeit zeichnet Alex Desselberger aus. Deshalb übernimmt er seit seinem Auszug Nachtdienste im Übergangshaus. Motivierte Menschen, die Lust haben, dort ehrenamtlich Nacht- und Wochenend-Schichten zu übernehmen, sind herzlich willkommen. Der Dienst geht von abends 20 Uhr bis morgens um acht. Freitags vor dem Gemeinschaftsfrühstück geht Sozialarbeiter Jürgen Becker mit seiner Gitarre über die Flure und weckt alle mit Jazzmusik. Alex Desselberger sagt: „Mir macht die Arbeit Spaß. Ich kann mich in etliche Gefühle der Betroffenen hineinversetzen und bin auch nach wie vor sehr dankbar für die Hilfe, die ich bekommen habe.“

Mehr in den Menschen zu sehen als bergeweise Probleme, auch das ist Programm im Übergangshaus. „Wir suchen nach den Stärken aller, schauen was sie alleine schaffen und was wir übernehmen sollten“, sagt Achim Wurster. So ist es für Alex Desselberger kein Problem, Papierkram selbst zu erledigen. Schließlich hat er früher einen Mieterverein mitgegründet, war politisch aktiv und hat später erfolgreich als Journalist gearbeitet. Immer hat er genug verdient, um seine Spielsucht und sein Leben zu finanzieren oder zumindest die makellose Fassade davon aufrecht zu erhalten.

Frühstück

Neben Achim Wurster kümmern sich weitere sechs Sozialarbeiter:innen und ein fürsorgerischer Helfer um die 40 Bewohnenden. Erst die gute Kooperation im Team macht die Arbeit des Übergangshauses möglich. „Es wäre noch besser, wenn wir ein multiprofessionelles Team wären und zusätzlich noch Psycholog:innen und Pflegepersonal hätten“, wünscht sich der Leiter für die Zukunft.

Anfang des Jahres 2000 wurde das Übergangshaus eröffnet. Seitdem hat sich vieles geändert: „Heute sind viele Klient:innen ältere Menschen mit gravierenden gesundheitlichen Problemen.“ 

Die hat Alex Desselberger nicht. Ihn plagt sein schlechtes Gewissen gegenüber Menschen, die er enttäuscht hat. Und: „Ich habe so viele Sachen verpasst im Leben“. Im Übergangshaus hat er wieder Mut getankt, um seine Zukunft mit eigener Wohnung und seiner Partnerin zu gestalten. Achim Wurster ermutigt ihn auch heute noch: „Es bringt ja nichts, das Leben rückwärts zu leben. Jetzt schau einfach mal nach vorne, Alex.“

Weiter Informationen

Das Übergangshaus ist eine Hilfe nach dem Sozialgesetzbuch, auf die ein individueller Rechtsanspruch besteht – für Menschen, die einen deutschenPass oder in Deutschland Ansprüche auf Sozialhilfe haben. 2023 hat das Übergangshaus 76 Menschen unterstützt (61 Männer & 15 Frauen). Zwölf davon konnten in eine eigene Wohnung ziehen, 15 ins betreute Einzelwohnen und acht in längerfristige Hilfen für psychisch Erkrankte und/oder suchtkranke Menschen.