27. Dezember 2019
„Dein Freund und Helfer“
Es war nicht sonderlich kalt, aber trotzdem feucht und recht ungemütlich an diesem Freitag Ende Dezember 2019. Unser erster Anruf erreichte uns vom Vivantes Krankenhaus Friedrichshain. Sophia nahm den Anruf entgegen. Ich habe schon seit mehreren Wintern die Ehre und das Vergnügen mit ihr Team arbeiten zu dürfen. Am anderen Ende der Leitung war der zuständige Polizeiabschnitt und informierte, dass ein Wohnungsloser in der Haupthalle des Krankenhauses säße und in eine Notübernachtung gebracht werden müsste. Krankenhäuser bedienen wir eigentlich immer erst zum Ende unserer Schicht, da aber gerade Zeit war, fuhren wir sofort nach Friedrichshain.
In der Haupthalle trafen wir auf einen sehr muskulösen, freundlichen Herren des Wachschutzes, der dafür Sorge zu tragen hat, dass kein Obdachloser im Vorraum, also im Warmen nächtigt. Das ist zwar menschlich betrachtet Unsinn, aber das ist sein Job. Wir fragten nach der Polizei. Die holten gerade die Sachen unseres Gastes in der Notaufnahme ab.
Um wen ging’s?
Um Gregor (Name geändert). Gregor saß im Rollstuhl, das hatte man uns nicht gesagt und stellte uns vor ein Problem! Wir waren mit dem regulären Bus unterwegs, wir können mit diesem nur Menschen transportieren, die wenigstens von selbst in den Bus kommen. Und dann hatte Gregor auch noch ein E-Rollstuhl, tonnenschwer, die Batterie war nahezu leer - wie sollten wir den einladen!
Gregor sprach eigentlich nur russisch. Aber Sophia konnte ihm einige Worte auf Englisch und Deutsch entlocken. Das ist das Großartige im Team: Eine oder einer findet meist einen Zugang. Gregor war im Afghanistan-Krieg – einseitig beinamputiert ab der Hüfte, das rechte Auge und mehrere Finger verloren. Was für ein Schicksal. Wie er nach Berlin kam? Keine Ahnung. Nach Schilderung des Wachschutzes wurde Gregor aus der Notaufnahme entlassen, fuhr dann in die Haupthalle des Krankenhauses, versteckte sich in der Damentoilette, wurde entdeckt und schmiss in der Haupthalle des Krankenhauses alle Kleider von sich. Letzteres musste zutreffen: Als wir ihn antrafen, hatte er weder Socke noch einen Schuh an.
Zusammenarbeit
Zwischenzeitlich kamen die Kollegen und Kolleginnen von der Polizei mit den Habseligkeiten von Gregor. Wir erklärten, dass wir Gregor so nicht mitnehmen können. Es wäre gut gewesen, uns vorab zu informieren, dass er im Rollstuhl sitzt, und dann noch – kommt selten vor - in einem E-Rollstuhl: Wir berieten gemeinsam, was getan werden könnte.
Wir boten an, in die Lehrter zu fahren und den Wagen gegen unser Ambulanzmobil auszutauschen, welches über eine Rampe verfügt. Voraussetzung ist aber, dass wir überhaupt einen Platz für einen Rollstuhlfahrer in dieser Nacht finden. Rollstuhlfahrer nehmen immer mehr zu und barrierefreie Plätz sind in den Notübernachtungen der Kältehilfe Mangelware. Sophia telefonierte mit der Lehrter Straße: im Ambulanzzimmer wäre noch ein Platz für Gregor frei – super.
Wir brachten Gregor ohne seinen Rollstuhl in den Kältebus. Und dann erwiesen sich die Kollegen der Polizei wahrlich als „Freunde und Helfer“: Sie organisierten einen Wagen zum Transport des E-Rollstuhls, luden diesen ein und fuhren hinter uns im Konvoi in die Notübernachtung. Alles klappte und Gregor konnte die Nacht im warmen Ambulanzzimmer verbringen.
Die Handy-Nummer von einem der Polizisten hatte ich mir notiert. Es war mir wirklich ein Bedürfnis: Ich rief eine halbe Stunde später an und bedankte mich für die Unterstützung: „Dein Freund und Helfer“.
Oliver Stemmann
ehrenamtlicher Kältebusfahrer