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  • 04.10.2024

Nach elf Jahren Straße wieder ein Zuhause

„Ich habe gelernt, dass man wirklich blöd ist, wenn man sich nicht helfen lässt."

Ein Zelt im Görlitzer Park ist jahrelang Marie Müllers* einziger Rückzugsort: Im Sommer, wenn die Sonne auf die Zeltwand scheint, aber auch, wenn in Winternächten drei übereinander gezogene Paar Socken und Hosen die Kälte nicht mehr abhalten. Um sich aufzuwärmen, besuchte Marie Müller damals einen Tagestreff. „Da habe ich gelernt, dass man wirklich blöd ist, wenn man sich nicht helfen lässt“, sagt die 62-Jährige rückblickend.

Marie Müller wollte weg von der Straße und ließ sich auf die Warteliste setzen für „Housing First Berlin“. Diese Kooperation zwischen der Berliner Stadtmission und der Neuen Chance ist 2018 als Modellprojekt gestartet. Grundidee ist das „Recht auf Wohnen“ mit eigenem Mietvertrag – und ohne Bedingungen. Weil Marie Müller elf Jahre lang wohnungslos war, psychische Probleme sowie eine Suchterkrankung hat, gehört sie zur Zielgruppe. Und konnte – wie inzwischen 68 andere Menschen – endlich eine kleine Wohnung beziehen: Dort, in Wedding, bietet sie vormittags Sozialarbeiter Sebastian Schröder einen Tee an. Marie Müller trinkt ein Bier. Das muss sie vor dem stellvertretenden Leiter von Housing First Berlin nicht verstecken. „Wir arbeiten suchtakzeptierend und entgegenkommend. Das ist ein Prinzip von Housing First“, erklärt der 39-Jährige. Dennoch thematisiert er den Alkoholkonsum bei den regelmäßigen Hausbesuchen. Einer anderen Frau konnte er so helfen, einen Entzug zu beginnen.

Maria mit Hund in neuer Wohnung

Wichtig ist bei Housing First, dass die Klient:innen alles aus eigener Motivation tun. „Wir arbeiten ohne Druck und Zwang. Sich an Regeln zu halten, fällt den meisten schwer“, weiß Sebastian Schröder. Er hat schon oft erlebt, dass Betroffene gerade deshalb aus anderen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe rausgeflogen sind. „Und wenn es darum geht, Ansprüche in der Wohnungslosenhilfe durchzusetzen, muss man betonen, wozu die Klient:innen nicht fähig sind. Das ist entmutigend“, weiß Sebastian Schröder. Housing First arbeitet anders: „Wir finden mit den Teilnehmenden heraus, was ihre Ressourcen sind, was ihnen wichtig ist und unterstützen sie dabei.“ Jede:r wird von einem Team aus zwei Bezugspersonen betreut. So wird Vertrauen aufgebaut wie zwischen Sebastian Schröder und Marie Müller.

„Mit dem Housing-First-Konzept sind wir Vorreiter und auch international gut vernetzt.“

Im Housing-First-Berlin-Team arbeiten neben Sozialbetreuenden und einer Psychologin auch Menschen, die selbst einmal obdachlos waren. Die Wohnungen vermittelt ein Scout, der auch Ansprechpartner für die Vermietenden ist. Sie erhalten die Miete direkt vom Sozialamt oder dem Jobcenter.

In den letzten Jahren haben nur fünf Teilnehmende Housing First wieder verlassen. Auch deshalb wurde das Projekt von der Berliner Sozialsenatsverwaltung ausgebaut: 2023 hat sie es mit insgesamt 3,3 Millionen Euro finanziert. Diese Anerkennung freut Sebastian Schröder: „Mit unserem Housing-First-Konzept sind wir Vorreiter und auch international gut vernetzt. Außerdem haben wir in Berlin gerade alle vier neu gegründeten Housing-First-Projekte geschult.“ Die Mitarbeitenden der Stadtmission sind von Lernenden zu Lehrenden geworden. Ihr größter Wunsch: „Dass Housing First ein reguläres Angebot der Wohnungslosenhilfe nach dem Sozialgesetzbuch wird." Sebastian Schröder ergänzt: „Dann wäre Housing First finanziell gesichert und könnte seine Kapazitäten ausbauen.“

Sebastian Schröder mit Maria

Für Menschen wie Marie Müller wäre das gut. Mit ihr füllt er einen Überweisungsschein für Staubsaugerfilter aus. Auch zum Zahnarzt wollen sie gemeinsam gehen, denn ihr künstliches Gebiss passt schon lange nicht mehr. „Angstpatientin“, kommentiert sie kurz. Rückhalt zu haben, einen Menschen auf den sie sich verlassen kann, tut der 62-Jährigen gut. Marie Müller war sechs Jahre alt, als ihr Mutter starb. Sie wuchs in einem Heim für Schwererziehbare auf, Misshandlungen gab es dort und sie lief immer wieder weg. Später ließ sie sich zur Maurerin ausbilden, wurde sogar Meisterin und war in der Hausbesetzerszene aktiv.

Zuletzt wohnte sie in Treptow, zahlte regulär Miete. „Dann gab es um mich herum mehrere Todesfälle und es ging mir psychisch immer schlechter“, erinnert sie sich. Am Ende wurde sie wegen 3.500 Euro Mietschulden geräumt und landete auf der Straße. „Elf Jahre lang hatte ich kein eigenes Zuhause“, sagt die 62-Jährige. Doch das ist Vergangenheit. Marie Müller kümmert sich um ihren Welpen Daisy und blickt trotz gelegentlicher depressiver Schübe nach vorn: „Ich bin viel draußen in der Natur, habe mir hier schon einen Freundeskreis aufgebaut und bin froh, dass ich die Wohnungstüre zu machen kann und dann meine Ruhe habe.“

*Name geändert