30 Jahre Leben retten
Seit 1994 bringt der Kältebus obdachlose Menschen im Winter ins Warme
Der Kältebus hat mir das Leben gerettet“, sagt Marcel Stärke. Seine Stimme stockt, wenn er von jener Nacht im Jahr 2014 erzählt. Da war er seit vier Jahren obdachlos, elf weitere sollten es werden. Die Nacht war kalt, minus zehn Grad. Es war der Todestag seiner Oma. Sie hatte sich immer gut um ihn gekümmert, anders als seine Mutter und deren prügelnder Freund. „Obwohl ich nur selten Alkohol trinke, habe ich mich in dieser Nacht komplett abgeschossen. Ich konnte nicht mal mehr stehen“, erinnert sich der heute 35-Jährige. Wenn das Kältebusteam ihn nicht gefunden und in die Notunterkunft in der Lehrter Straße gebracht hätte, wäre er erfroren, ist sich Marcel Stärke sicher. So wie ihn haben die drei Kältebusse der Berliner Stadtmission während des vergangenen Winters 1.580 Menschen ohne Obdach in eine warme und sichere Bleibe gebracht – 237 Menschen mehr als im Vorjahr. Tendenz steigend.
Auch diese Saison fahren wieder drei Kältebusse pro Nacht durch Berlin, um Menschen in Notunterkünfte zu bringen oder jene, die nicht mitwollen, mit heißem Tee, einer Suppe und einem Schlafsack zu versorgen. Erstmals sind die Kältebusse für diese Einsätze komplett auf Spenden angewiesen. Kältebus-Initiatorin und Leiterin des Fachbereichs Wohnungslosenhilfe bei der Stadtmission, Karen Holzinger, ist dennoch dankbar: Für 30 Jahre Förderung durch das Bezirksamt Neukölln, für ein tolles Team aus zwei Kollegen und 60 Ehrenamtlichen, die zur Hilfe eilen, wenn jemand die 030 690 333 690 wählt und die auch dazu beitragen, die Kältebusfahrten effizienter zu machen, wie durch das Entwickeln und den Einsatz der Kältehilfe-App.
Anders sah das vor 30 Jahren aus, als Karen Holzinger, Uli Neugebauer und Gunnar Fiedler mit einem alten VW-Bus gemeinsam die U-Bahnhöfe der Stadt abklapperten. Zusammen leiteten sie die Obdachlosentagesstätte City-Station. „Wir haben gemerkt, dass es Menschen gibt, die es nicht schaffen, selbstständig zu uns zu kommen“, erinnert sich Karen Holzinger. „Darum fragten wir abends obdachlose Menschen an den U-Bahnhöfen, wo sie nachts schlafen werden.“ Die meisten wussten es nicht. „Und weil stark alkoholisierte obdachlose Menschen draußen einschlafen und manchmal bis zum nächsten Morgen erfrieren, haben wir angefangen, sie mit dem Bus abzuholen“, erinnert sie sich. Doch wohin mit ihnen? „Die Kältehilfe war damals noch nicht so umfassend“, weiß Karen Holzinger. Kurzerhand wurden die Räume der Stadtmissionsgemeinde Kreuzberg in ein Nachtcafé umgewandelt.
„Ziel ist es, Menschen durch intensive Sozialberatung in langfristige Hilfen zu vermitteln."
Inzwischen nimmt die Berliner Stadtmission in der Traglufthalle am Containerbahnhof ganzjährig 70 obdachlose Gäste auf. Die Senatsverwaltung für Soziales finanziert diese Plätze im Rahmen des Integrierten Sozialprogramms (ISP). Ziel ist es, diese Menschen durch intensive Sozialberatung in Projekte wie ,Housing First‘ oder andere langfristige Hilfen zu vermitteln. Zusätzlich hat die Berliner Stadtmission im Winter noch 180 Betten in zwei Notübernachtungen.
125 davon in der Lehrter Straße. „Durch die zentrale Lage und weil sie bis 4 Uhr nachts Gäste aufnimmt, ist sie fast immer überbelegt“, sagt Kältebus-Initiator Uli Neugebauer. Er verantwortet bei der Stadtmission die Kältehilfe. Durchschnittlich schliefen dort im vergangenen Winter jede Nacht 137 Menschen. „Viele Gäste sind ohne Zukunftsperspektive“, erklärt er, „sie haben keine Leistungsansprüche und keinen Anspruch auf Unterbringung oder weiterführender Hilfen.“
Zudem kommen von Jahr zu Jahr mehr mobilitätseingeschränkte Menschen, die sich mit Rollstühlen, Krücken oder Rollatoren fortbewegen. Aber keine einzige Notunterkunft in Berlin ist barrierefrei. Auch die Zahlm der Obdachlosen steigt, die krank oder in schlechter körperlicher Verfassung sind. So mussten jede Nacht mehr als zwei medizinische Notfälle versorgt werden.
Zwischen November und Anfang April kam 230 Mal der Krankenwagen. „Stark zugenommen hat auch die Zahl der Gäste mit psychischen Problemen“, sagt Uli Neugebauer. So versuchten 32 Mal Menschen in der Notübernachtung sich das Leben zu nehmen oder hatten dies vor. „Auch hat die generelle Gewaltbereitschaft zugenommen, Mitarbeitende werden geschlagen, getreten oder angespuckt“, ergänzt er.
„Einen wärmenden Schlafsack haben sie gerne angenommen."
Dieselben Menschen, die nachts in Notunterkünften schlafen, besuchen tagsüber oft die Bahnhofsmission am Zoo. Dort unterstützt die Berliner Stadtmission ebenso Bedürftige. Das können Menschen ohne Obdach sein, aber auch arme Rentner:innen, deren Geld nicht ausreicht, um Essen zu kaufen.
Leiterin Sünje Hansen kennt viele von ihnen seit Jahren. Früher war sie als mobile Einzelfallhelferin unterwegs, um Menschen zu beraten, die auf U- und S-Bahnhöfen leben. Täglich verteilt sie nun mit ihrem Team aus Kolleg:innen und ehrenamtlich Tätigen im Gastraum mehr als 600 Essen und Getränke. „In diesem Jahr geben wir auch wieder heiße Suppe aus, das wärmt von innen“, sagt sie. Über Geldspenden dafür freut sich die Berliner Stadtmission. Auch Winterschlafsäcke können wieder abgegeben werden.
In der vergangenen Saison haben die Kältebusteams 3.586 Menschen, die auf der Straße leben, einen heißen Tee gereicht und 617 Menschen mit Schlafsäcken versorgt. Marcel Stärke weiß, wie wichtig ein warmer Winterschlafsack sein kann. Er hat oft erlebt, wie obdachlose Bekannte bei Minusgraden zwar nicht in den Kältebus einsteigen wollten: „Aber einen wärmenden Schlafsack haben sie gerne angenommen.“