Menschen und Geschichten
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  • 04.12.2024

„Wir lieben Mode“

30 Jahren Secondhandkleidung im Kiezladen Joachim-Friedrich-Straße

Gerade war Sarah Müller* in der City-Station zum Mittagessen. In der Tagesstätte der Stadtmission können bedürftige und obdachlose Menschen duschen und Wäsche waschen. Für 50 Cent kauft sie sich dort täglich eine warme Mahlzeit. Danach geht Sarah Müller nebenan in den Kiezladen in der Joachim-Friedrich-Straße. Kurz blickt sie ins Schuhregal und schaut noch die Hosen und die Winterjacken durch. Sie sagt: „Hier bin ich seit mehr als 25 Jahren Stammkundin.“

Viele weitere wohnen im Kiez unweit des Ku‘Damms. „Eine ältere Nachbarin schaut jeden Tag zwei Mal bei uns vorbei, um zu plaudern und viele Jüngere bummeln durch den Laden, um nach der Arbeit auf andere Gedanken zu kommen“, erzählt Sandra Anger, die das Geschäft seit vier Jahren leitet. Die ehemalige Lektorin ist stolz auf die riesige Auswahl an Büchern, liebevoll sortiert von einer langjährigen Ehrenamtlichen. „Wir haben hier mehrere Tausend Bücher. Von Kindermärchen bis zur philosophischen Abhandlung ist alles dabei“, sagt Sandra Anger und ergänzt: „Nur Bücher, CDs und Schmuck nehmen wir hier täglich an.“

Kiezladen Joachim-Friedrich Straße

Auch die stellvertretende Leiterin Fabienne Krauss mag das abwechslungsreiche Sortiment und weiß, was die fünf Mitarbeitenden und 15 ehrenamtlich Tätigen verbindet: „Wir lieben Mode.“ Nach Farben sortierte Secondhandkleidung für Männer und Frauen, gemusterte Vintage-Teile oder edle Handtaschen, auch alte Gemälde, modischer Schmuck und antikes Porzellan werden angeboten. Diese Dinge haben Menschen der Stadtmission gespendet. „Wir nehmen hier vier Mal pro Jahr Spenden an“, erklärt Fabienne Krauss. Sortiert wird im Textilhafen. „Was nicht zur Ausgabe in der Kleiderkammer für Bedürftige geeignet ist, landet in den vier Kiezläden.“ Den ersten, in der Joachim-Friedrich-Straße, hat Diakon Uli Neugebauer 1994 gegründet. Die Einnahmen kamen damals der City-Station zugute. Uli Neugebauer fand es sehr bedrückend, dass Wohlhabende einen Bogen um obdachlose Menschen machten. „Ich wollte mit dem Kiezladen Grenzen zwischen Armen und Reichen abbauen und einen Ort schaffen, wo sie sich begegnen können“, erinnert er sich.

„Einmal saß eine Dame im feinen Pelz neben einem obdachlosen Mann an der Theke der Citystation und beide tranken Kaffee. Da habe ich gemerkt, das
funktioniert.“ Zudem durften Menschen im Kiezladen arbeiten, die auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Chance mehr hatten. Inzwischen gehört der Kiezladen zu „Komm & Sieh“ , dem Inklusionsunternehmen der Berliner Stadtmission.

Damit Kund:innen sich dort gut zurechtfinden, ist die gebrauchte Ware gut sortiert. Das war am Anfang anders: „Die Menschen konnten hier viel entdecken“, erinnert sich Uli Neugebauer. So schenkte ihm einmal jemand eine Kiste mit alten Spielzeugautos. „Die wollte ich für 50 Pfennig anbieten.“ Wie sich nachher herausstellte, waren die Fahrzeuge unbespielte Sammlerobjekte im Wert von knapp tausend Mark pro Stück. An diese Zeit erinnert sich auch Rosemarie Manig. Sie steht seit knapp 20 Jahren samstags ehrenamtlich an der Kasse. „Am Anfang hatten wir eine Geldkassette und einen Block und mussten im Kopf zusammenrechnen“, weiß die 74-Jährige.

Sie mag die Kund:innen, die den Kiezladen ausmachen. Sozialhilfe-Empfänger:innen kaufen dort ebenso ein wie Instagram-Stil-Ikone Britt Kanja. Weil das Team die Kundschaft gut kennt, beraten alle mit Leidenschaft und legen auf Wunsch auch etwas zurück. Sandra Anger erinnert sich: „Ich habe mal sehr kleine Vintage-Handschuhe für Britt Kanja gefunden. Sie passten und die Dame war zu Tränen gerührt.“

Rosemarie Manig mag den Zusammenhalt im Team und die herzliche Atmosphäre. „Ich lebe alleine und wenn ich nicht hingehen kann, fehlt mir das“, erzählt sie. Früher ging es vor der Schicht mit den Kolleginnen noch auf einen Kaffee in die Citystation. Und heute? „Da gehe ich mit Andrea, die schon seit 30 Jahren ehrenamtlich im Kiezladen arbeitet, noch schön was essen.“