Jedes Jahr fahren verschiedene Fahrer:innen und Helfer:innen nächtlich mit dem Kältebus durch Berlin, um Menschen im Winter vor dem Erfrieren zu bewahren. Einige von ihnen schreiben ihre Erlebnisse auf, um andere daran teilhaben zu lassen. Lesen Sie hier einige Erlebnisberichte.
Begegnungen, die nach Schichtende wachhalten
Heute darf ich im Kältebus der Berliner Stadtmission mitfahren. Von November bis März ist dieser zwischen 8 und 2 Uhr jede Nacht mit bis zu fünf Fahrzeugen auf Berlins Straßen unterwegs, um Menschen ohne Obdach zu versorgen. Nachdem wir Tee und Kaffee gekocht und genügend Schlafsäcke und Isomatten an Bord genommen haben, geht es erstmal zur Tankstelle. Jens steuert den barrierefreien Kältebus und Karla weist ihm den Weg von Auftrag zu Auftrag. Die junge Frau in ihren Zwanzigern mit einer Fulltime-Stelle jobbt zusätzliche am Wochenende und fährt schon den vierten Winter ehrenamtlich im Kältebus mit. Letztes Jahr sei sie fast jede zweite Nacht im Einsatz gewesen, dieses Jahr wollte sie eigentlich eine Pause einlegen, erzählt sie. Doch als die Mails vom Team kamen, habe sie nicht widerstehen können und sich doch wieder zu Schichten angemeldet. Fahrer Jens kommentiert: „Ja, ohne das fehlt irgendwas, oder? Wir sind ein bisschen wie eine große Familie.“
Auf einem I-Pad werden Karla die eingegangenen Aufträge angezeigt. Die Person, die ehrenamtlich im Callcenter unter der Nummer 030-690333690 Meldungen von Bürger:innen entgegennimmt, hat sie in grün und rot markiert. Rot sind besonders dringende Fälle. Auf einer Karte sind die Standorte der einzelnen Aufträge und auch die Positionen der drei Kältebusse zu sehen, die in dieser Nacht unterwegs sind. Wir nehmen uns den Berliner Osten vor. Der Verkehr ist stockend und die beiden berichten mir während der Fahrt von vergangenen Schichten.
Immer wieder erlebe Karla Begegnungen, die sie auch nach Schichtende wachhielten. „Einmal fanden wir einen Mann, dessen Hose heruntergerutscht war, mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegend. Kein Passant war stehengeblieben, um ihm zu helfen. Wir haben einen Krankenwagen gerufen und die haben festgestellt, dass seine Körpertemperatur schon gefährlich gesunken war.“
Jens: „Ich habe mal auf einem Parkplatz ein junges Mädchen gefunden, die bei Minusgraden nur mit einer Jacke zugedeckt war. Hinterher habe ich mich geärgert, dass ich ihr sofort einen Schlafsack und eine Isomatte angeboten habe. Ich hätte sie überreden sollen, sich von uns in die Notübernachtung bringen zu lassen. Bei so einer jungen Frau gibt es noch gute Chancen, dass sie durch Sozialberatung einen Weg von der Straße findet. In meiner nächsten Schicht bin ich extra noch mal dort vorbeigefahren, aber sie war nicht mehr da. Ich helfe ja auch in der Notübernachtung, hier im Kältebus bleiben die Begegnungen aber meistens noch länger im Kopf, weil man mit Einzelschicksalen konfrontiert wird.“
Karla bestätigt das. Sie sei mit dem Kältebus einmal an einem Mann vorbeigekommen, der in einem Hauseingang schlief. „Wir wussten, dass der Mann durch die Hausbewohnenden gut versorgt wird, deshalb sind wir weitergefahren. In der nächsten Nacht kamen wir wieder dort vorbei. Der Hauseingang stand voll mit Kerzen. Ich habe mich erkundigt und erfahren, dass der Mann gestorben war. Die Todesursache war wohl nicht die Kälte gewesen, trotzdem habe ich noch viel an ihn gedacht und mir Vorwürfe gemacht, dass wir in dieser Nacht nicht bei ihm angehalten und ihn angesprochen hatten.“
Endlich erreichen wir unseren ersten Auftrag. Zwei Frauen, Mutter und Tochter, sollen am U-Bahnhof Frankfurter Alle warten, um in eine Notübernachtung gebracht zu werden. Als wir endlich aussteigen, liegt die Meldung schon zwei Stunden zurück. Die beiden sind unauffindbar. Hoffentlich haben sie selbst ihren Weg in die Notübernachtung am Containerbahnhof gefunden, die ja nicht weit vom U-Bahnhof entfernt ist. Ähnlich geht es uns mit Auftrag zwei und drei. Jens erklärt: „Leider gibt es auch oft Meldungen von Passant:innen, die sich scheuen, Menschen anzusprechen und zu fragen, ob sie überhaupt Hilfe möchten. Sie gehen an ihnen vorbei und rufen im Nachhinein den Kältebus an. Es ist sehr schade, dass wir kostbare Zeit benötigen, diese Personen anzufahren, die uns dann wieder wegschicken. In der Zeit hätten andere unsere Hilfe gut gebrauchen können.“
Dann holen wir Miroslav* aus dem Krankenhaus ab. Seine gebrochene Hüfte wurde operiert und heute wird er unter Schmerzen entlassen. Vorsichtig helfen wir ihm mit seinem Rollator in den Kältebus. Er fragt, ob wir ihn zu seinem Kumpel, der in Kreuzberg auf der Straße auf ihn warte, bringen können. „Nein, wir bringen dich in eine Notübernachtung hier um die Ecke. Da kannst du im Warmen schlafen“, erwidert Karla. In der Notübernachtung am Containerbahnhof angekommen bewegt sich der Patient auf seinen Rollator gestützt langsam durch die Sicherheitsschleuse zum Empfang der Notübernachtung. Es geht erstaunlich ruhig und geordnet in der großen Traglufthalle zu. Ein paar Gäste sitzen an Tischen und essen Eintopf, andere haben sich schon schlafen gelegt. Am Empfang erhält Miroslav ein Armband mit einer Nummer. Wegen seiner frisch operierten Hüfte darf er in einem der barrierefreien Pflegebetten übernachten, die anderen schlafen auf Feldbetten. Uns bleibt nichts, als ihm alles Gute zu wünschen und zu hoffen, dass er auch am nächsten Abend seinen Weg in die Notübernachtung findet.
Auf dem Weg zu unserem nächsten Auftrag – eine Bewohnerin hat für einen jungen Mann, der sich in ihrem Treppenhaus aufhält, den Kältebus angerufen – kommen wir an Menschen vorbei, die ihre Lager unter Brücken aufgeschlagen haben. Sie haben Matratzen und warme Schlafsäcke. All ihre Habe steht in Einkaufswägen neben ihnen. Karla und Jens erklären mir, dass diese Menschen nicht mitkommen würden, in eine Notübernachtung. Nur solche mit leichtem Gepäck, im Notfall hätten sie aber auch schon Einkaufswägen im Kältebus mitgenommen. Trotzdem freuen sich die Brückenbewohnenden natürlich über warmen Tee und ein paar Worte auf Augenhöhe.
"Nur selten erleben sie Mitmenschen, die sich ihnen zuwenden und fragen, wie es ihnen geht."
Als wir den jungen Mann in dem Hausflur erreichen, kommt die Anruferin mit zu uns raus und bittet darum, ihn in eine Notübernachtung zu bringen, die Sozialberatung anbietet. Sascha* bekräftigt, dass er dringend Unterstützung mit seinen Anträgen beim Amt brauche. Von Drogen oder Alkohol benebelt berichtet er auf dem Weg in die Notübernachtung redselig von seiner Situation, sichtlich froh darüber, dass ihm jemand zuhört.
Für mich endet der Einsatz mit dieser Begegnung, Jens und Karla fahren noch einige Stunden weiter. „Und wenn um 2 Uhr nachts noch unbearbeitete rote Aufträge da sind, mache ich bestimmt nicht Feierabend,“ betont Jens. „Schlimm, dass wir in diesem reichen Land überhaupt gebraucht werden. Demnächst fährt eine Politikerin bei mir mit. Ihr möchte ich zeigen, dass wir dringend mehr staatliche Unterstützungsmöglichkeiten und Unterkünfte für obdachlose Menschen brauchen, besonders auch für mobilitätseingeschränkte und pflegebedürftige Gäste.“
Anna Koppri, Mitarbeiterin der Unternehmenskommunikation