Menschen und Geschichten
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  • 25.10.2023

Leben, wo die S-Bahnen fahren

Die Mobile Einzelfallhilfe kümmert sich an S- und U-Bahnhöfen um Obdachlose

Mitarbeitende der Mobilen Einzelfallhilfe reden mit wohnungslosen Mann

Rund 100 Millisekunden – in dieser kurzen Zeit schätzen wir andere Menschen ein. Das passiert mit dem ersten Blick, völlig unterbewusst. 100 Millisekunden, und Joao* hat gewonnen. Sein Lächeln macht ihn sympathisch und auch der Rest passt: Joao, Mitte 30, hat einen akkuraten Haarschnitt, trägt sau- bere, sommerliche Kleidung: Wer ihn auf der Straße trifft, lächelt zurück und geht weiter. So wie hunderte, ja tausende Menschen Tag für Tag am S-Bahnhof Halensee. Dass ihnen Joao dort immer wieder begegnet, merken die Wenigsten. Denn der junge Lateinamerikaner lebt neben dem Aufzug zur S-Bahn unter einer Brücke. Joao ist wohnungslos und hat eigentlich keinen Grund, zu lächeln: Er bettelt, um genug Geld für den nächsten Schuss zusammenzukriegen. Und wenn das Heroin dann endlich wirkt, wechseln sich Glücksgefühle mit Angstzuständen ab. „Trotzdem ist Joao ein netter, umgänglicher Kerl“, sagt Marius Wolf, Mitarbeiter der Mobilen Einzelfallhilfe der Berliner Stadtmission. Er und seine Kolleg:innen versuchen seit längerem, eine Beziehung zu ihm aufzubauen und sein Vertrauen zu gewinnen.

Eine psychische Erkrankung macht es für Joao schwierig, in einer Wohnung zu leben.

Doch Joao hat neben seiner Sucht auch noch eine psychische Erkrankung. Einzelfallhelfer Marius Wolf erklärt: „Die macht es schwierig für ihn, eigenständig in einer Wohnung zu leben. In geschlossenen Räumen fängt er an, alles auseinanderzuschrauben. Aber wir bieten ihm regelmäßig Unterstützung an und sind für ihn da, wenn er das möchte.“

"Wir sind dankbar, dass wir flexibel für die Menschen auf der Straße da sein können.“

Obwohl jedes Leben anders ist, gibt es bei vielen der Klient:innen oft ähnliche Erlebnisse in der Vergangenheit, die sie geprägt haben. Einige versuchen, die Erinnerungen daran mit Hilfe von Drogen zu unterdrücken. Marius Wolf erklärt: „Oft sind diese Menschen psychisch erkrankt und schaffen es dann aus eigener Kraft nicht mehr, sich über Wasser zu halten.“ Manche Klient:innen in psychischen Ausnahmezuständen lassen niemanden an sich heran. Dort setzt dann seit rund zehn Jahren die „Mobile Einzelfallhilfe“ der Berliner Stadtmission mit ihren fünf Mitarbeitenden an. „Wir wenden uns an obdachlose Menschen, deren Lebensmittelpunkt sich im Bereich des S- und U-Bahnsystems befindet“, erklärt Projekt-Koordinatorin Franziska Haßelmann. Die Klient:innen sollen nachhaltig in weiterführende Hilfen vermittelt werden. Das können Wohnprojekte sein oder auch eine Suchtbehandlung. Die Mobilen Einzelfallhelfer:innen kümmern sich immer wieder aufs Neue um ihre Klient:innen.

Finanziert wird das Projekt von den Berliner Verkehrs- betrieben (BVG), der S-Bahn Berlin und Spender:innen.
„Wir sind wahnsinnig dankbar, dass wir in diesem Projekt flexibel für die Menschen auf der Straße da sein können“, sagt Sozialarbeiterin Franziska Haßelmann und erklärt: „Einen Großteil unserer Arbeitszeit verbringen wir draußen, im Gespräch mit den Klient:innen oder am Telefon, um Hilfen für sie zu organisieren. Dazu kommen Verwaltungsaufgaben und das Vernetzen mit anderen Organisationen.

„Nach den Jahren auf der Straße waren wir bei diesem Menschen, als sein Leben zu Ende ging.“

Das kleine Team rund um Franziska Haßelmann hat so im vergangenen halben Jahr mehr als 50 Klient:innen betreut: Sie beantragten Ausweise, kommunizierten mit Krankenversicherungen, haben Wohnungen und Wohn- heimplätze vermittelt und Arzttermine vereinbart. „Es ist uns auch gelungen, einem sterbenskranken Klienten einen Platz in der Palliativpflege zu besorgen“, erinnert sich Franziska Haßelmann und ergänzt: „Wir waren bei ihm, als sein Leben zu Ende ging. Nach all den Jahren alleine auf der Straße konnten wir diesen Menschen auf seinem letzten Weg ein Stück begleiten.“ | JN

*Name geändert