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  • 15.11.2023

Zehn Jahre Straßenambulanz - Beziehungsarbeit auf Rädern

Beziehungsarbeit auf Rädern

Mitarbeiter am Kältebus

Vorsichtig lenkt Artur Darga den Ambulanzbus der Berliner Stadtmission über den nächtlichen
Alexanderplatz. Zwei Mal pro Woche ist das mobile Behandlungszimmer unterwegs, um Menschen zu versorgen, die auf der Straße leben. Kaum hat Artur den Motor ausgeschaltet, kommen die ersten Bedürftigen. Eine Deutsche mittleren Alters bittet lediglich um ein Heißgetränk und legt sich dann ein paar Meter weiter auf eine Decke, um zu schlafen. Ein Mann mit verbundenem Arm, der russisch spricht, fragt nach einer heißen Suppe und ein aus Danzig stammender Mann hat Schmerzen. Er wurde jüngst im Krankenhaus am Bein behandelt. Artur Darga unterhält sich auf Polnisch mit ihm und reicht ihm ein paar Tabletten.
Einige Patient:innen kennen den ehrenamtlichen Fahrer der Straßenambulanz schon lange. Er war es, der vor zehn Jahren die erste Tour gefahren ist. Finanziert von der „Deutsche Bahn Stiftung“ hatte damals die
Ambulanz für Menschen ohne Krankenversicherung mit Pflegezimmern neben der Notunterkunft in der Lehrter Straße eröffnet. „Doch wir haben schnell gemerkt, dass nicht alle Menschen dorthin zur Behandlung kommen können“, erinnert sich Artur Darga.

„Durch Angebote wie dieses können obdachlose Menschen Vertrauen fassen und den Mut finden, ihr Leben zu ändern.“

Das ehrenamtliche Team um Ambulanzleiterin Svetlana Krasovski-Nikiforovs hatte dann 2013 die Idee, eine mobile Ambulanz loszuschicken. „Anfangs haben wir uns ein Auto geliehen und improvisiert“, erinnert sich Artur. 2019 hat dann die Conrad-Stiftung der Stadtmis-sion den Ambulanzbus geschenkt. Der ist mit einer Rampe für Menschen ausgestattet, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind.

Artur Darga im Kältebus

Denn neben zahlreichen Obdachlosen mit psychischen Problemen, gibt es immer mehr, die mit Krücken gehen, sich auf Rollatoren stützen oder auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Um auch ihnen die Rückkehr in ein geregeltes Leben zu ermöglichen, fehlen Wohnungen, Fachkräfte und Geld. Das Hilfesystem ist überlastet. Und so bleiben diese Menschen zu lange auf der Straße und verelenden.
Michael Weber* war noch fit, als er vor 20 Jahren seine Wohnung verlor. Inzwischen sitzt der alkoholabhängige Mann im Rollstuhl. Als er während der Pandemie für mehrere Wochen in einer so genannten 24/7-Einrichtung der Stadtmission bei freier Kost und Logis wohnen konnte, ging es ihm schnell besser. „Mehr Angebote wie diese und auch Tagesstätten sind nötig, damit obdachlose Menschen sich regelmäßig an dieselben Ansprechpartner wenden können, wieder Vertrauen fassen und dann irgendwann den Mut finden, ihr Leben zu ändern“, weiß Artur Darga. Er spricht aus eigener Erfahrung: „Ich war selbst 21 Jahre lang heroinabhängig und habe auf der Straße gelebt.“ Sein Glaube hat ihm dabei geholfen, wieder ein geregeltes Leben zu beginnen. „Auf der Straße herrscht der Kampf ums Überleben, man kann niemandem vertrauen, wird ständig bestohlen“, erinnert er sich. Deshalb ist die Beziehungsarbeit so wichtig, die er und seine Kolleg:innen mit der Straßenambulanz zusätzlich leisten. Früher waren sie ein kleineres Team und kannten alle Leute auf der Straße. „Heute gibt es viel mehr Obdachlose. Deshalb ist das Team gewachsen, was aber auch die Beziehungsarbeit erschwert,“ bedauert Artur Darga.

„Das Hilfesystem ist überlastet. So bleiben Menschen zu lange auf der Straße und verelenden.“

Michael Weber kennt die Mitarbeitenden der Stadtmission und vertraut Ärztin Gabriela Aldama. Nachdem Artur Darga den 57-Jährigen über die Rampe ins Innere der Straßenambulanz geschoben hat, beginnt die Behandlung. „Bester Kaffee“, lobt Michael Weber und spült mit einem weiteren Schluck die Schmerztablette herunter. „Vorhin habe ich schon eine halbe Flasche Vodka getrunken, damit es nicht so weh tut“, erzählt er. Wer die Beine von Michael behandelt, braucht Fingerspitzengefühl, gute Nerven und viel Menschenliebe. Gabriela Aldama und Esther Lehmann, die ihr freiwilliges soziales Jahr bei der Stadtmission absolviert, nehmen sich Zeit. Mit destilliertem Wasser tränkt Esther Lehmann die schmutzigen Verbände, die Ärztin löst sie vorsichtig ab. Mit Verschnaufpausen vergehen fast zwei Stunden, bis die eitrigen Beine frisch verbunden sind.

Gabriela Aldama versorgt Obdachlosen Menschen

Früher war Michael ganze Tage auf den Beinen. Da hat der Koch und Bäcker noch die von ihm geliebten Pfannkuchen mit Pflaumenmus gebacken. Heute plagt ihn zusätzlich zu amputierten Zehen und entzündeten Beinen auch noch ein gebrochener Arm, der in einem Gipsverband steckt.
Zu immer mehr pflegebedürftigen Menschen wie ihm, aber auch zu psychisch Erkrankten, inkontinenten und dementen Gästen werden die drei Kältebusse der Ber-liner Stadtmission in den Abend- und Nachtstundengerufen, um sie vor dem Erfrieren zu retten. Andere suchen selbst Schutz in den drei Notunterkünften der Stadtmission: Dort haben in der vergangenen Kältehilfe-Saison insgesamt 65 Menschen übernachtet, die mobilitätseingeschränkt sind. Die Notübernachtung am Containerbahnhof in Friedrichshain ist eine der wenigen in Berlin, die barrierearm ist.
Weil unter den Mitarbeitenden aber kein medizinisches Fachpersonal ist, dürfen sie pflegebedürftige Menschen nicht aufnehmen. „Nur wer sich selbständig aus dem Rollstuhl in ein Bett heben und ohne Hilfe die Toilette benutzen kann, darf bei uns übernachten“, erklärt die Leiterin der Einrichtung, Christina Grundke. Die anderen Gäste wegzuschicken fällt ihr und ihrem
Team sehr schwer. Die Sozialarbeiterin weiß: „Diese Menschen brauchen dringend weitere barrierefreie Einrichtungen mit entsprechendem Fachpersonal.“
Auch Michael Weber kann sich selbst aktuell nicht alleine fortbewegen. Sein gebrochener Arm muss erst wieder heilen. Mit sauberen Verbänden an den Beinen und einem Couscous-Salat in einer Pappschale auf dem Schoß sitzt er gegen 22.30 Uhr vor einem der S-Bahn-Ausgänge am Alexanderplatz. „Guten Appetit und bis zum nächsten Mal“, sagt Gabriela Aldama und steigt zurück in den Bus. Michael Weber ruft ihr noch hinterher: „Danke, ich liebe euch.“ | BB
*Name geändert